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Bittere Pillen schlucken

Doktor Streek seine bittere Pille

Sonntagsfrage. Hendrik Streeck hat mit seiner provokanten Äußerung, älteren Patienten keine teuren Medikamente mehr zu verabreichen, eine Debatte entfacht, bei der es gleichermaßen um Ethik, Gerechtigkeit, Ökonomie und die gesellschaftliche Vorstellung von Würde und Fürsorge im Alter geht. Es ist ein Vorschlag, der sowohl Aufschrei als auch Nachdenklichkeit provoziert, und im Lichte der Geschichte greift ein bitterer Schatten zurück auf die Aussagen von Philipp Mißfelder, der seinerzeit ähnliche Fragen stellte und selbst tragisch jung an den Spätfolgen eines Behandlungsfehlers verstarb. Zugleich eröffnet sich ein Blick auf das Einsparpotenzial im sogenannten Bundeszuschuss zur privaten Krankenversicherung, sowohl für Beamte als auch für Pensionäre und Rentner – ein Thema, das oft hinter der glühenden Diskussion um die Kosten im Gesundheitssystem zurücktritt und doch Zentrum jeder nachhaltigen Reform sein müsste.

Medizinischer Versorgungsalltag

Die Debatte um die Versorgung älterer Menschen mit Medikamenten berührt nicht nur die Sachlogik der begrenzten Ressourcen, sondern stellt auch die grundsätzliche Frage, wie eine Gesellschaft mit ihren ältesten Mitgliedern umgehen möchte. Streecks Vorschlag impliziert, dass das Lebensalter ein wesentlicher Faktor für die Priorisierung medizinischer Leistungen sein sollte. Doch ist es wirklich legitim, das Lebensende zu einem Kriterium zu erheben? Die „Ökonomisierung“ der Medizin hat sich längst in unsere Entscheidungen eingeschrieben, doch das moralische Unbehagen nimmt zu, wenn Patienten nach dem Kalender kategorisiert werden sollen.

Viele Ärzte erleben täglich den Spagat zwischen medizinischer Indikation und ökonomischer Effizienz. Teure Therapien etwa bei Krebs oder seltenen Erkrankungen stellen sowohl das Budget als auch die Entscheidungsfreiheit infrage. Die Frage, ob ein Patient zu alt für eine bestimmte Therapie ist, wird oft kaum offen gestellt, sondern schleichend beantwortet – durch Verzögerung, Abwägung, letztlich durch die scheinbare Sachlogik des Machbaren.

Früher Fall des Mißfelders

Philipp Mißfelder, einst Hoffnungsträger und scharfzüngiger Kopf der Jungen Union, wurde deutschlandweit bekannt, als er in den frühen 2000er-Jahren forderte, die Kostenübernahme teurer Hüftoperationen bei alten Menschen zu prüfen. Mißfelder argumentierte, ob es sozial gerecht sei, hohen finanziellen Aufwand für kurze Lebenszeit zu betreiben, und entfesselte eine Welle der Empörung, aber auch der Diskussion um Prioritätensetzung im Gesundheitssystem. Ironischerweise starb Mißfelder selbst an Behandlungsfehlern nach einem Treppensturz, deren Spätfolgen ihm trotz Jugend nicht zu ersparen waren – ein Schicksal, das der Debatte eine tragische Wendung gibt. Denn: Medizinische Fehlleistungen sind altersunabhängig, die Dimension des Lebens und des Todes betrifft Menschen unabhängig von den Kategorien, die Planer und Finanzreferenten anlegen.

Das ethische Dilemma wird hier offensichtlich: Wer kategorisch nach Lebenszeit urteilt, übersieht, dass der Sinn von Medizin nicht im bloßen Funktionieren eines Sozialversicherungssystems liegt, sondern in der Hoffnung und im Trost, den sie jedem einzelnen Menschen geben soll – unabhängig von Lebensalter oder prognostizierter Restlebensdauer.

Ökonomische Humanität

Deutschland besitzt ein teueres Gesundheitssystem, dessen Leistungsfähigkeit auf der Solidarität und der Sicherung aller Teilnehmer basiert. Der Ruf nach Einsparungen ist angesichts explodierender Ausgaben legitim, aber die Frage, wo genau diese Einsparungen erlangt werden sollen, ist entscheidend. Streecks These legt nahe, dass das Heil der Politik in der Rationierung teurer Medikamente liegt – doch sie verschweigt, wo sich tatsächlich substanzielle Spielräume verbergen.

Hier lohnt sich ein Blick auf die sogenannten Bundeszuschüsse, die jedes Jahr aus Steuermitteln zur Unterstützung der privaten Krankenversicherung fließen – insbesondere zugunsten der Beamten, aber auch der Pensionäre und Rentner mit privaten Policen. Diese Zuschüsse stellen einen milliardenschweren Posten im Bundeshaushalt dar, deren Notwendigkeit und Gerechtigkeit kontrovers diskutiert wird. Die Frage, warum der Staat substantielle Mittel für Gruppen aufbringt, die sich privat versichern können – oder sogar privilegiert sind – während gesetzlich Versicherte für jede Leistungssteigerung um politische Zustimmung und Budgeterlaubnis kämpfen, ist eine der zentralen Gerechtigkeitsfragen im Gesundheitswesen.

Politische Folgen

Was also wäre gewonnen, wenn wirklich auf das Alter als Kriterium zur medizinischen Selektion gesetzt würde? Neben den unmenschlichen Folgen – der Erfahrung von Angst, Ausgrenzung, und der Frage nach dem Wert des Lebens im letzten Abschnitt – ist fraglich, ob dies überhaupt eine nachhaltige ökonomische Entlastung ergäbe. Auch Mißfelder hat seinerzeit keine überzeugeden Berechnungen liefern können, sondern vor allem eine Debatte über Werte, Prioritäten und Gerechtigkeit ausgelöst.

Das tatsächliche Einsparpotenzial liegt, wie etwa der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem und andere Experten immer wieder darlegen, im System der Zuschüsse zur privaten Krankenversicherung und ihrer historischen Begründung, die heute oft an der Lebensrealität vorbeigehen. Hier könnten Milliarden eingespart werden – ohne dass Patienten, egal welchen Alters, auf lebensrettende Medikamente verzichten müssten.

Gerechtigkeit im System

Das duale System aus privater und gesetzlicher Krankenversicherung ist, trotz seiner vermeintlichen Fairness, immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Kritik. Die Privilegien für Beamte und deren Familien, die angesichts enormer zusätzlicher Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt ihre privaten Policen unterhalten, stehen in einem krassen Missverhältnis zur Leistungs- und Beitragslast der gesetzlichen Versicherungen. Die Zuschüsse für Pensionäre und Rentner in vergleichbaren Policen bedeuten, dass ein erheblicher Teil der Gesundheitskosten nicht solidarisch, sondern aus steuerfinanzierten Mitteln beglichen wird – eine erhebliche Schieflage, die selten offen benannt wird.

Wenn eine Gesellschaft bereit ist, nach Lebensalter zu sortieren, sollte sie den Mut haben, auch nach Systemgerechtigkeit zu handeln – und die Zuschüsse überprüfen, statt am Lebenswert der Alten zu sparen.

Ultima Ratio

Es bleibt die Frage: Was ist eine Gesellschaft bereit, für ihre ältesten Mitglieder zu tun? Dürfen Ressourcen allein den Ausschlag geben? Die Debatte nach Streeck und Mißfelder zeigt, wie schnell der Diskurs um knappe Mittel in einen Diskurs um Werte kippt. Es ist zu einfach, die Rettung des Systems auf dem Rücken der ältesten Patienten auszutragen, während an anderer Stelle Milliarden unbeachtet fließen.

Als Gesellschaft müssen wir Prioritäten setzen, ja; wir müssen Reformen anstreben, gewiss – aber mit Mut zu wahrer Gerechtigkeit und nicht zu mechanistischer Effizienz. Die Würde des Menschen – gerade am Lebensende – ist unantastbar. Und wer heute zur Rationierung von Medikamenten aufruft, sollte morgen auch die politische Courage besitzen, die Zuschüsse im System zu überprüfen und für Transparenz und Fairness einzutreten. Denn Ersparnis ist nicht immer Humanität. Und Humanität ist nicht verhandelbar.

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  1. Bittere Pillen schlucken – Matthias Parthesius - 30. November 2025

    […] Patienten keine teuren Medikamente mehr zu verabreichen, eine Debatte entfacht, bei der am Ende der Bundeszuschuss zur privaten Krankenversicherung – sowohl für Beamte als auch für Pensionäre und Rentner – zur Disposition stehen muss. Denn […]

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