
Sonntagsfrage. Die Veröffentlichung der neuen US-amerikanischen Sicherheitsstrategie markiert einen Wendepunkt in den transatlantischen Beziehungen. Dass Beobachter in Washington wie in Brüssel sie bereits als Scheidungspapier bezeichnen, ist keine Übertreibung: Zwischen den Zeilen steht nicht mehr die vertraute Partnerschaft, sondern die nüchterne Priorität nationaler Interessen. Was einst unter der Formel Westliche Wertegemeinschaft firmierte, wird nun durch eine klare Hierarchie ersetzt – an erster Stelle steht Amerika, an zweiter die geopolitische Zweckmäßigkeit.
Für Europa bedeutet das nicht nur eine kommunikative Entfremdung, sondern eine strategische Zäsur. Wenn die USA Europas wirtschaftliche Eigenständigkeit als Risiko interpretieren und offen auf Brüche innerhalb der EU setzen, stehen Deutschland, die Europäische Union und die NATO-Staaten vor einer dreifachen Herausforderung: militärisch, politisch und ideologisch.
Einem durchgesickerten, als klassifiziert eingestuften Entwurf der aktuellen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA zufolge, wird der Brexit als ein Erfolg in der US-Politik gegenüber Europa gewertet. Es wird angestrebt, dass weitere Länder – insbesondere Polen, Österreich, Italien und Ungarn – dem britischen Beispiel folgen und die EU verlassen, um die europäische Integration zu schwächen.
Die neue US-Sicherheitsstrategie verschiebt dazu das Kräfteverhältnis im Krieg um die Ukraine und im Verhältnis zu Russland von Grund auf – weg von einer transatlantisch geführten Koalition der Unterstützer hin zu einem Europa, das sicherheitspolitisch weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen wird. Für Kiew bedeutet dies einen abrupten Strategiewechsel, für Moskau ein vermeintliches Fenster der Gelegenheit, und für die europäischen Staaten einen Stresstest ihrer eigenen Entschlossenheit.
Im Zentrum steht die im Dokument formulierte Absicht, einen zügigen Waffenstillstand in der Ukraine zu verhandeln, um Europas Wirtschaft zu stabilisieren und die strategische Balance mit Russland wiederherzustellen. Diese Formulierung rückt nicht mehr die Wiederherstellung ukrainischer Kontrolle über das gesamte Territorium in den Vordergrund, sondern Konfliktbeendigung als Funktionsbedingung europäischer und amerikanischer Interessen.
Hinzu kommt, dass die Strategie eine weitere NATO-Erweiterung explizit in Frage stellt und die permanente Expansion des Bündnisses beenden will – de facto ein Stopp-Signal für den ukrainischen Beitritt. In Kiew wird dies als tektonischer Bruch gelesen: Die Perspektive NATO bleibt eingefroren, während gleichzeitig klar wird, dass die Hauptverantwortung für Europas Sicherheit künftig bei den europäischen Staaten selbst liegen soll.
Europäische Think Tanks weisen darauf hin, dass das Ausbleiben eines verstärkten, langfristig garantierten US-Sicherheitsversprechens Europa zwingt, die strategische Zukunft der Ukraine selbst zu definieren. Politisch heißt das: Die Frage, ob die Ukraine de facto Teil eines westlichen Sicherheitsraums bleibt, wird weniger in Washington als in Berlin, Paris, Warschau und Brüssel entschieden.
Für die EU und die europäischen NATO-Staaten erwächst daraus eine doppelte Verpflichtung: militärisch, durch mehr und verlässlichere Unterstützung bis hin zu eigenständigen Sicherheitsgarantien, und politisch, durch klare Aussagen zur Einbindung der Ukraine in eine europäische Sicherheitsarchitektur jenseits eines formellen NATO-Beitritts. Ukrainische Experten sprechen bereits von der Notwendigkeit einer europäischen NATO, also neuer Formate, die Russland abschrecken, ohne auf amerikanische Zusagen angewiesen zu sein.
In Moskau wird der neue US-Kurs aufmerksam gelesen: Die in der Strategie angestrebte Wiederherstellung strategischer Stabilität mit Russland und die Skepsis gegenüber NATO-Erweiterung berühren zentrale russische Narrative. Dass führende Vertreter der US-Regierung zudem ukrainische NATO-Ambitionen als einen der Auslöser des russischen Angriffs deuten, kommt russischen Deutungsmustern entgegen und wird propagandistisch genutzt.
Gleichzeitig birgt die De-facto-Freeze-Politik gegenüber weiteren NATO-Erweiterungen erhebliche Eskalationsrisiken. In Moskau könnte sie als Einladung interpretiert werden, In der Grauzone zwischen NATO und Russland aggressiv zu testen, um Fakten zu schaffen, bevor Europa eigene Abschreckungsfähigkeiten aufgebaut hat. Für die baltischen Staaten, Moldau und den Schwarzen Meer-Raum verschärft sich damit das Bedrohungsgefühl.
Die strategische Entkopplung der USA von Europa erhöht den Druck auf die EU, im postsowjetischen Raum nicht mehr nur als wirtschaftlicher Akteur, sondern als Sicherheitsmacht aufzutreten. Für die Ukraine bedeutet dies, dass ihre langfristige Westbindung weniger über Washington, sondern über eine vertiefte Integration in EU-Märkte, Energie- und Rüstungskooperationen verlaufen wird.
Für Russland eröffnet sich zugleich die Chance, durch bilaterale Arrangements mit einzelnen europäischen Staaten Spaltungen auszunutzen – etwa dort, wo Regierungen skeptisch gegenüber Sanktionen oder militärischer Unterstützung für Kiew sind. Ob diese Rechnung aufgeht, hängt davon ab, ob Europa eine gemeinsame Linie findet: Entweder entsteht ein stärker geeintes, sicherheitspolitisch erwachsenes Europa – oder ein Kontinent, in dem Russland und die USA konkurrierend an den Rändern der EU ziehen.

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